Entwicklungsgeschichte und theoretischer Hintergrund psychoanalytischer Paar und Familientherapie

Die ersten konzeptuellen Überlegungen zur psychoanalytischen Paar- bzw.  Familientherapie wurden erstmals von Flügel (1921) am University College London und von Clearance Oberndorf (1938) in New York gelegt. Seit diesem Zeitpunkt hat sich die psychoanalytische Paar- und Familientherapie von einem praktizierten Randphänomen zu einem international anerkannten und praktizierten psychoanalytischen Therapieverfahren entwickelt, welches international von vielen psychoanalytischen Ausbildungsinstituten unterrichtet wird.

Einhergehend mit der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie im Allgemeinen, von der frühen Betonung der Bedeutung des innerpsychischen Konflikts und seiner Abwehr, über das intrapsychische Verständnis des Symptoms als Ausdruck eines psychischen Erlebens innerhalb einer verinnerlichten Objektbeziehungsdyade, hin zum unbewussten intersubjektiven Interaktionsverständnis, wandelte sich auch das psychoanalytische Paar- und Familientherapieverständnis im Verlauf des letzten Jahrhunderts. Dabei wurde der interpersonellen Beziehungsgestaltung eine zunehmend besondere Rolle beigemessen, die über das Übertragungs- und Gegenübertragungskonzept hinausgeht und die in der Behandlung einen zentralen Stellenwert hat. Die sich unbewusst inszenierende Interaktion in der Dyade wird in der Einzelpsychoanalyse wie auch in der psychoanalytischen Paar- und Familientherapie für Diagnostik und Behandlung gleichermaßen genützt. In der psychoanalytischen Paar- und Familientherapie gilt der Grundsatz, wonach „die Beziehung als der eigentliche Patient“ zu verstehen ist (Dicks, 1967). Dies bedeutet, dass neben den jeweiligen individuellen Pathologien, vielmehr die gemeinsam kreierte Paar- oder Familienstruktur in den Mittelpunkt der Behandlung gestellt wird. Der manifeste Konflikt – mit den häufigen Schuldzuschreibungen an einzelne Paar- oder Familienmitglieder – wird als auf einer gemeinsam geteilten unbewussten Annahme beruhend angenommen, bzw. zwar als ein individueller Konflikt verstanden, der von allen Beteiligten gleichermaßen getragen wird. Für eine Indikationsstellung zur Paartherapie bedeutet dies, dass von beiden Partnern bzw. allen Familienmitgliedern eine entsprechende Motivation zur Behandlung und Einsicht in die eigene Mitbeteiligung am Konflikt erfordert wird, wenngleich angenommen werden kann, dass gerade in Familien unterschiedliche Grade der Beteiligung zu erwarten sind.  

Ein bedeutsames Instrument, um die unbewusste Konfliktdynamik und darin wirkende projektive Prozesse diagnostisch zu erfassen, ist das psychoanalytische Konzept der Übertragung und Gegenübertragung, welches in der psychoanalytischen Paar- und Familientherapie aufgrund der wechselseitigen Übertragungen und projektiven Identifizierungen als Kleingruppengeschehen verstanden werden kann, bei dem der Therapeut oder die Therapeutin Mitglied und Beobachterin der Gruppe zugleich ist.

Während die frühe psychoanalytische Paartherapie ihren Fokus vor allem auf die individuale Psychodynamik der jeweiligen Partner legte, und das Deuten sowie die Rekonstruktion der Vergangenheit der Partner vorrangig waren, basiert psychoanalytische Paar- und Familientherapie heute vor allem auf objektbeziehungstheoretischen, intersubjektiven und relationalen Konzepten und einer Wiederaufnahme von psychoanalytischen Ideensträngen, die ab den 1960er Jahren explizit als Weiterentwicklungen psychoanalytischer Theorien zur Entstehung der systemischen Familientherapie beitrugen (vgl. Parsons, 1955; Ackermann, 1958; Bronfenbrenner, 1960; Minuchin, 1974), jedoch von der Psychoanalyse zunächst nicht weiterverfolgt wurden. Der heutige psychoanalytische Zugang, auch aufgrund der sich ab 1960 entwickelnden Theorie der Gruppenpsychoanalyse, betrachtet alle Beteiligten und das gemeinsam Erlebte auch als triangulär in der Gegenwart konstruierte Entitäten, also als einen komplexen Prozess, der reflektiert und therapeutisch nutzbar gemacht werden soll.

Erste Institutionalisierungen psychoanalytischer Paar – und Familientherapie

Die für die Entwicklung der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie von Paaren und Familien entscheidende Institution entstand nach dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien. Das in London 1948 durch Enid Balint gegründete „Family Discussion Bureau“ (später Tavistock Insitute for Marital Studies, heute Tavistock Relations), wurde aufgrund der zunehmenden Scheidungen, Trennungen, ehelichen Disharmonien und familiären Spannungen nach dem Krieg zur Erforschung, Lehre und Therapie von Paarbeziehungen notwendig. Auf der Suche nach einer effektiven Theorie war den dort tätigen Psychoanalytiker:innen und Sozialberater:innen (u.a. Elizabeth Bott Spillius, Henry Dicks, Lilly Pincus u.a.) klar, dass die Psychoanalyse ein tiefes Verständnis für die den Konflikten und dem Funktionieren von Paarbeziehungen zugrundeliegenden Faktoren liefern konnte (Günther, 2018).   Die am Tavistock Institute in Folge entstandenen psychoanalytischen Behandlungskonzepte sind nach dem Standardwerk von Henry Dicks (1967), weiter von Cristopher Culow (1990), Stan Ruszczynski (1991) oder etwa Mary Morgan (2018) zunehmend differenziert und konsolidiert worden. Zeitgleich entstand an der Georgetown University in Washington eine amerikanische Weiterentwicklung psychoanalytischer Paartherapie unter Bezug auf die Arbeiten des Londoner Tavistock Institute mit stärker Ich-Psychologischer Ausrichtung welche heute am International Psychotherapy Institute IPI durch David Scharff und Jill Scharff (1987; 1992) unterrichtet wird.

Im deutschsprachigen Raum konnte im Wind der Zeit auch Jürg Willi (1975; 1978), in Anlehnung an Henry Dicks‘ (1967) Modell der Kollusion spezifische Konfliktmuster kollusiver Paare für die klinische Nutzung ausarbeiten und Horst-Eberhardt Richter (1975) Dynamiken dysfunktionaler Familien aus einem psychoanalytischen Blickwinkel systematischer beschreiben. In weiterer Folge entstand als Zusammenschluss deutscher Ausbildungseinrichtungen für psychoanalytische Paar und Familientherapie der Bundesverband für Psychoanalytische Paar- und Familientherapie in Deutschland.

In Österreich waren es vor allem die beiden Psychoanalytiker Hans Strotzka und Ludwig Reiter, welche in den frühen 1970er Jahren erste psychoanalytisch orientierte Paar- und Familientherapien auf der Grundlage der damals neu erschienenen Theorien von Henry Dicks durchführten. Ludwig Reiter entwickelte in weiterer Folge, nach dem Weggang von der Universität und Übernahme der Leitung des damals von Oskar Spiel individualpsychologisch geführten Instituts für Ehe- und Familientherapie von einer psychoanalytischen Haltung ausgehend eine zunehmend systemische Perspektive und gründete schließlich 1986 die Österreichische Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und systemische Studien ÖAS aus der ein systemisches Fachspezifikum wurde (Reiter, 1983; 1986).

Aktuelle Organisation psychoanalytischer Paar – und Familientherapie

Die psychoanalytische Paar- und Familientherapie blieb bis zur Jahrtausendwende nicht in einer Dachorganisation zusammengefasst. Erst im Jahr 2000 wurde eine International Association for Couple and Family Psychoanalysis IACFP mit regelmäßigen Kongressaktivitäten gegründet, die letztlich 2014 zu einer Anerkennung der psychoanalytischen Paar- und Familientherapie in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA) führte, sowie in der Europäischen Federation für Psychoanalytische Psychotherapie EFPP, wo sie heute jeweils als Sektion organisiert ist. Diese Verbände veranstalten ebenso regelmäßige internationale Kongresse in Kooperation mit der IACFP. Darüber hinaus wurde im deutschsprachigen Raum im Jahr 1999 der Bundesverband für Psychoanalytische Paar und Familientherapie (BvPPFT) mit Sitz in Deutschland etabliert, der die deutschen Ausbildungsinstitute vereint. Gleichzeitig und gemeinsam mit deutschen Kolleg:innen gab es auch in Österreich in den 70er Jahren Vorläuferbemühungen und Forschungsaktivitäten zu Paar- und Familienfragen durch Univ.-Prof. Dr. Hans Strotzka und Dr. Ludwig Reiter an der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie (vormals: Institut für Tiefenpsychologie und Psychotherapie) der Medizinischen Universität Wien (vormals: Medizinische Fakultät der Universität Wien). In Österreich ist zunächst keine Fachorganisation entstanden, jedoch wurden die Bemühungen um psychoanalytische Paar- und Familientherapie im Jahr 2018 neuerlich an der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie aufgenommen, wo eine Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalytische Paartherapie gegründet wurde, eine Ambulanz für Psychoanalytische Paartherapie eröffnet wurde sowie Tagungen und Weiterbildungen stattfinden.